Forderungen an den Berliner Senat

An:
Frau Franziska Giffey, Regierende Bürgermeisterin
Frau Iris Spranger, Senatorin für Inneres, Digitalisierung und Sport
Frau Katja Kipping, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales
Frau Lena Kreck, Senatorin für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung
Frau Saraya Gomis, Staatssekretärin für Vielfalt und Antidiskriminierung
Frau Ulrike Gote, Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung
Frau Katarina Niewiedzial, Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration

Berlin, 13.07.2022

Betr.: Unsicherheit und Benachteiligung von Drittstaatler*innen aus der Ukraine

Wir, die unterzeichnenden Organisationen, wenden uns an Sie und an die Berliner Öffentlichkeit mit Sorge um Unsicherheit und Benachteiligung von Menschen, die als Angehörige von Drittstaaten aus der Ukraine geflohen sind und sich mittlerweile in Berlin aufhalten.

Wir fordern eine sichere Perspektive für alle aus der Ukraine geflüchteten Menschen.

Insgesamt sind laut IOM von den 7,3 Mio. Geflüchteten aus der Ukraine ca 200.000 Drittstaatler*innen und Staatenlose, ihr Anteil unter den bisher geschätzten 2,5 Mio. Rückkehrer*innen ist sicher erheblich geringer. Für Berlin liegen uns keine genauen Zahlen vor, es wird geschätzt, dass 100.000 Geflüchtete aus der Ukraine in Berlin sind. 70.000 davon haben sich beim LEA registriert. Laut LEA sind 3-5% der registrierten Geflüchteten aus Drittstaaten (ca. 2350 – 3500). Menschen aus Drittstaaten, die bis zum 24.2.2022 in der Ukraine gelebt haben, schließen Studierende aus unterschiedlichen Ländern insbesondere des globalen Südens ein, aber auch Migrant*innen, die sich zu Arbeitszwecken oder aus persönlichen Gründen in der Ukraine aufgehalten haben. Hierzu zählen wir auch staatenlose Geflüchtete aus der Ukraine, u.a. Romnja ohne ukrainische Staatsbürgerschaft.

Diese Menschen sind durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins zu Kriegsflüchtlingen geworden und erleiden jetzt Nachteile gegenüber Geflohenen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit. Dagegen sollten alle Menschen, die vor einem Krieg fliehen, als Kriegsflüchtlinge anerkannt werden und einen gesicherten Aufenthaltsstatus erhalten. Drittstaatsangehörige aus der Ukraine teilen in vielerlei Hinsicht die Problematik aller Geflüchteten aus der Ukraine. Sie haben ihr vertrautes Leben hinter sich gelassen, haben sich überstürzt und unter Bedrohungen in Sicherheit gebracht. Sie befinden sich in einem ihnen gänzlich unbekannten Umfeld. Neben dem Trauma der Bedrohung durch den Krieg haben Drittstaatsangehörige häufig auch auf der Flucht Zurückweisung und Rassismus erfahren und sind auch in Deutschland einer anhaltenden Unsicherheit ausgesetzt. In Berlin angekommen sind sie wechselnden Verfahren, unklaren und unvollständigen Informationen hinsichtlich ihres Aufenthalts und des Zugangs zu Existenzsicherungsleistungen und medizinischer Versorgung ausgesetzt.

Vorgaben des BMI zur Umsetzung der Massenzustromsrichtlinie (2001/55-EG) zufolge sind sie nur eingeschränkt durch den §24 AufenthG geschützt und mit großer Unsicherheit bei ihrer Bemühung um einen gesicherten Aufenthaltsstatus konfrontiert. Die aktuelle Beschränkung ihres Aufenthaltsrechts bis Ende August 2022 erhöht diese Unsicherheit. Einige Drittstaatsangehörige wurden fälschlicherweise gedrängt Asylanträge zu stellen.

  • Sie haben aufgrund der Unsicherheit des Aufenthalts (gesicherter Aufenthalt nur bis 31.8.22, online Fiktionsbescheinigung) Probleme beim Zugang zum Arbeitsmarkt und zu den Bildungsangeboten (Deutschkurse, Schulen, Hochschulen)
  • Aufgrund der eingeschränkten Bleibeperspektive nach dem 31.8.22 und der rechtlichen Unklarheit im Verhältnis zwischen §24 und möglichen Studienvisa versuchen viele Drittstaatsangehörige ihre Registrierung hinauszuzögern, um Zeit für alternative Aufenthaltsoptionen zu gewinnen.
  • Dies führt in Kombination mit mangelnden Informationen und wenig konsistentem Verwaltungshandeln der Berliner Behörden sowie der de facto eingeschränkten Akzeptanz von alternativen Nachweisen des legalen Aufenthalts in der Ukraine bei Verlust von Dokumenten dazu, dass Drittstaatsangehörigen derzeit tatsächlich Zugang zu existenzsichernden Leistungen und medizinischer Versorgung haben.
  • Faktisch haben Drittstaatsangehörige keinen Zugang zu Integrationskursen und sie werden auch beim Tugang zu Deutschkursen der VHS benachteiligt. Die Unsicherheit über ihren Aufenthaltsstatus sowie die wiederholten Erfahrungen von Ungleichbehandlung und Ablehnung auf den genannten Ebenen führen bei vielen Drittstaatsangehörigen auch zu schwerwiegenden psychischen Problemen zusätzlich zu den durch den Krieg und ihre durch Rassismus erschwerte Flucht verursachten Traumata.

Die Alternative der Rückkehr in die Herkunftsländer – auch wenn sie erst wenige Jahre oder kürzer in der Ukraine gelebt haben- besteht für viele Drittstaatsangehörige nicht: In zahlreichen Herkunftsländern sind sie bedroht durch Armut, Unsicherheit und fehlende Bildungsmöglichkeiten, denen sie durch die Migration in die Ukraine zu entkommen suchten. Berlin dagegen verliert durch all diese Hürden Talente und Fachkräfte.

Die aufenthaltsrechtlichen Regelungen liegen in der Bundeskompetenz und entsprechende Forderungen zu ihrer Veränderung haben wir bereits in am 15.6.2022 und am 20.06.2022 gesendeten Schreiben an Innenministerin Nancy Faeser formuliert.

Um auf Landesebene die bestmöglichen Bedingungen für Drittstaatsangehörige und Staatenlose zu schaffen, formulieren wir unsere Forderungen und Vorschläge an die Regierende Bürgermeisterin, den Berliner Senat und insbesondere die Senatsverwaltungen für Integration, Arbeit und Soziales, für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung, für Inneres, Digitalisierung und Sport, für Bildung, Jugend und Familie sowie für Wissenschaft, Gesundheit und Gleichstellung:

1. Rechtssicherheit und Kommunikation

Bei den zuständigen Ämtern gibt es keine verlässlichen Informationen für Drittstaatsangehörige aus der Ukraine, und darüber hinaus sogar Desinformation über ihre Rechte und den für ihre Situation in Deutschland und insbesondere in Berlin geltenden Rechtsrahmen.

Wir fordern:

  • Eine kulante Auslegung des § 24 AufenthG und die Nutzung der Spielräume, die das Landesamt für Einwanderung und die hierfür verantwortliche Senatsverwaltung für Inneres haben
  • Dies gilt auch entsprechend auch für die übrigen für Geflüchtete aus der Ukraine zuständigen Behörden
  • Die Weitergabe aktueller, zutreffender und ausführlicher Informationen innerhalb der Behörden, sowie in Kommunikation mit den Geflüchteten und deren Unterstützerkreisen

2. Anerkennung von Nachweisen

Nach ukrainischen Gesetzen ist die ukrainische Botschaft nicht zuständig für Unterlagen und Nachweise von nicht-ukrainischen Staatsbürger*innen, ihre Dokumente können in Deutschland weder ausgestellt, erneuert noch verlängert werden, Duplikate werden nicht erstellt.

Wir fordern:

  • Die durchgängig unbürokratische Anerkennung alternativer Nachweise über den Aufenthalt in der Ukraine (Fotos, Bankkonto, Verträge etc.) und über andere beispielsweise für Personenstand und Einkommensverhältnisse relevante Sachverhalte
  • Eine klare und verbindliche Kommunikation und Umsetzung dieser Anleitung an und in allen Behörden

3. Leistungen

Die Zuständigkeit zur Erbringung von Sozialleistungen zum Lebensunterhalt ist gemäß dem jeweiligen Aufenthaltstatus geregelt und es ist nicht nachvollziehbar, wieso Menschen zwischen Jobcenter und Sozialamt hin- und hergeschoben werden, ohne dass ihnen die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts zeitnah gewährt werden. Für Drittstaatsangehörige ohne Aufenthaltserlaubnis oder grüne Fiktionsbescheinigung bleiben die Sozialämter zuständig und müssen die Leistungen erbringen. Sozialämter verlangen von Drittstaatsangehörigen unzulässigerweise Unterlagen über den Aufenthalt in der Ukraine, obwohl sie für die Prüfung des Aufenthaltsrechts nicht zuständig sind. Für die Gewährung der Sozialleistungen muss insoweit die Registrierung im UA TXL und Registrierung für einen LEA-Termin ausreichen.

Wir fordern:

  • Klare Kommunikation von SenIAS an die Sozialämter hinsichtlich ihrer Verpflichtung, weiterhin Leistungen auszuzahlen, bis eine Übernahme durch Jobcenter erfolgt
  • Gespräche in den Behörden mit Sprachmittler*innen auch für Englisch Unbürokratische Anerkennung alternativer Nachweise über den Aufenthalt in der Ukraine (Fotos, Bankkonto, Verträge etc.) und über andere für Personenstand und Einkommensverhältnisse relevanten Sachverhalte (siehe 1.)
  • keine unzulässige Abfrage von zusätzlichen Dokumenten
  • Transparenz in Form schriftlicher Bescheide hinsichtlich der Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG bzw. nach dem SGB II/XII, auch bei Änderungen der monatlichen Beträge
  • Einrichtung einer Beschwerdestelle zur Durchsetzung der Ansprüche auf Existenzsicherung und zur Qualitätssicherung

4. Gesundheit

Trotz der neuen vertraglichen Regelungen, die uneingeschränkt allen geflüchteten Personen einen gesetzlich versicherten Zugang zum Gesundheitswesen ermöglichen sollen, besteht in der Praxis eine Versorgungslücke: Für viele Leistungen wird ein Krankenversicherungsnachweis verlangt, was die Registrierung bei LEA, LAF und beim Bürgeramt sowie eine sozialversicherte Arbeitsstelle oder die Bewilligung von Sozialleistungen voraussetzt. Viele der sich in Berlin aufhaltenden Drittstaatler*innen erfüllen diese Voraussetzungen (noch) nicht und so wird dieser besonders vulnerablen –bereits von Krieg und Flucht traumatisierten– Gruppe der Zugang zu einer zeitnahen medizinischen Versorgung erschwert, anstatt eine schnelle, unkomplizierten Versorgung zu gewährleisten und darüber hinaus einer Verschlimmerung und Chronifizierung von psychischen Erkrankungen — verursacht durch Krieg, Flucht und den aktuellen Belastungen durch Unsicherheit und mangelnder Bleibeperspektive — entgegenzuwirken.

Wir fordern:

  • Ausbau der Angebote zur psychosozialen Beratung, auch in englischer Sprache
  • Gesicherten Zugang zu Gesundheitsversorgung, niedrigschwellige Aushändigung der Dokumente zur Krankenversicherung und ausreichende Informationen

5. Sprachkurse

Drittstaatsangehörige haben wegen der fehlenden Aufenthaltserlaubnis keinen Zugang zu Integrationskursen. Es gibt nicht genug alternative Programme zum Erlernen der deutschen Sprache in Berlin. An manchen VHS wurde Drittstaatsangehörigen der Zugang zum Kurs rechtswidrig verweigert, Fiktionsbescheinigungen werden häufig nicht anerkannt. Spracherwerb ist anerkanntermaßen der erste notwendige Schritt zur Integration und Partizipation.

Wir fordern:

  • Gesicherten Zugang zu Sprachkursen für alle Geflüchtete in Berlin, auch Drittstaatsangehörigen aus der Ukraine, unabhängig vom aktuellen Aufenthaltstitel
  • Bestätigung und Kommunikation an die Kursträger darüber, dass die Kosten der Sprachkurse für Geflüchtete durch den Senat übernommen werden, unabhängig vom Aufenthaltsstatus

6. Fortsetzung und Aufnahme von universitären Studien

Ukrainische Universitäten bemühen sich zwar das Studienjahr online abzuschließen, stellen aber keine Leistungsnachweise aus. Einige Universitäten bieten dies erst nach einer möglichen Exmatrikulation und gegen Gebühren an. Die Studierenden sind somit auch hinsichtlich ihrer akademischen Ausbildung einer erhöhten Unsicherheit ausgesetzt: Um sich in Deutschland für ein Studium zu bewerben, benötigen sie die Leistungsnachweise, die sie nicht erhalten können – und um sie zu erhalten, müssten sie sich exmatrikulieren, ohne dass sie die Gewähr haben, an einer deutschen Universität angenommen zu werden. Selbst da, wo Studierende ihre Leistungsnachweise vorlegen, werden diese von deutschen Universitäten häufig nicht anerkannt.

Wir fordern:

  • 2 Jahre Vorbereitungsaufenthalt zur Studienaufnahme (Sprachkurse, Bewerbungen etc.) für Studierende mit entsprechender Perspektive zur Aufnahme eines Studiums in Berlin durch das Landesamt für Einwanderung
  • Leistungen für die Sicherung des Lebensunterhalts, auf Antrag entweder durch BAfÖG oder nach SGBII, für die Zeit der Studienvorbereitung und für die Zeit des darauf folgenden Studiums
  • Zugang zu Sprachkursen (siehe Punkt 5)
  • Anerkennung englischer Sprachkompetenz für Studierende aus englischsprachigen Ländern oder mit englischsprachiger Bildungsbiografie, die sich für englischsprachige Bachelor- und Masterstudiengänge bewerben ohne weitere – und schon gar nicht kostenpflichtige – Sprachprüfungen
  • Mehr englischsprachige Angebote für (Bachelor- und) Masterstudierende und dazugehörige Stipendienprogramme (siehe erste Angebote des DAAD) an Berlins Universitäten und ohne Studiengebühren oder mit Stipendienprogrammen.

7. Schule

Für schulpflichtige Kinder aus der Ukraine gibt es nicht ausreichend Schulplätze, weder in den 1.-3. Klassen der Grundschulen noch in den Willkommensklassen. Stand Anfang Juni sind Schulplätze für knapp 50% der geflüchteten Schülerinnen eingerichtet. Laut §2 des Berliner Schulgesetz gilt das Recht auf angemessene und Zugang zu Regelschulen unabhängig von Herkungt und Aufenthaltstatus. Aufgrund der noch nicht geklärten Bleibeperspektive besteht die Gefahr, dass Kinder von Drittstaalter*innen aus der Ukraine bei der Schulplatzvergabe benachteiligt werden.

Wir fordern:

  • Umsetzung des Rechts auf Bildung für alle Kinder und Jugendliche – unabhängig vom Herkunft, Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus
  • Ausreichend Plätze in den Schulklassen oder Willkommensklassen Bedingungslose Aufnahme in Schul- und Willkommensklassen während des Aufenthalts in Berlin, ohne Befristung.

Aufgrund der aktuell volatilen Situation der Geflüchteten aus der Ukraine ist die Liste der Problemlagen und Forderungen nicht abgeschlossen. Zum jetzigen Zeitpunkt scheinen uns die o.g. Themen jedoch von zentraler Bedeutung und wir hoffen auf eine rasche Reaktion Ihrerseits und die Umsetzung der genannten Forderungen, um die aus unserer Sicht unnötigen zusätzlichen Belastungen und den hohen Leidensdruck, denen diese besonders vulnerable Gruppe ausgesetzt ist zu reduzieren.

Wir freuen uns über Ihre Antwort und stehen für Rückfragen oder Gespräche gerne zu Ihrer Verfügung.