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15. Juni 2022
Nancy Faeser
Dienstsitz Berlin
Alt-Moabit 140
10557 Berlin
Sehr geehrte Frau Ministerin Faeser,
wir sind BIPoC Ukraine & Friends in Germany, eine selbstorganisierte Gemeinschaft, die sich für BIPoC (Black/Indigenous/People of Color), die vor dem brutalen und grausamen russischen Angriff auf die Ukraine und dem darauffolgenden Krieg geflohen sind, einsetzt und unterstützt.
Wir bitten Sie eindringlich, Ihre volle rechtliche Befugnis als Innenministerin auszuüben, um die faire und gleiche Behandlung aller Kriegsgeflüchteten aus der Ukraine in Deutschland, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, durchzusetzen und so die Diskriminierung von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen aus der Ukraine zu beenden.
Konkret fordern wir Sie auf, dies durch die Umsetzung folgender Maßnahmen sicherzustellen:
- Auf gesetzlicher Ebene durch die Einbeziehung aller Drittstaatsangehöriger mit bedeutsamen Verbindungen zur Ukraine in §24 AufenthaltsG.
Wir bitten Sie, in diesem Sinne eine Änderung des Rundschreibens M3-21000/33#6 zu erlassen und in Punkt 4.1 (Voraussetzungen) folgenden Zusatz aufzunehmen:
Vorübergehender Schutz wird Drittstaatsangehörigen gewährt, „wenn sie nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückkehren können oder wenn sie vor dem 24.02.22 bedeutsame Bindungen und ihren Lebensmittelpunkt in der Ukraine hatten (wobei bedeutsame Bindungen u.a. auch Arbeit, Studium, Ausbildung, Geschäft, Hauptwohnsitz sind).“
- Auf exekutiver Ebene durch die zuverlässige Durchführung fairer Verfahren gemäß den oben geforderten Regelungen und das Ergreifen der dafür notwendigen Maßnahmen
Um eine verlässliche Umsetzung dieser Regelungen durch alle Organe der Exekutive, insbesondere Polizei, Meldeämter und Sozialbehörden, zu gewährleisten muss sichergestellt werden, dass die Mitarbeitenden der Behörden entsprechend geschult und sie für Fehlverhalten und Verstöße gegen die Regelungen zum Nachteil der zu schützenden Personen zur Verantwortung gezogen werden.
Vor allem muss mehr dafür getan werden, dass Drittstaatsangehörige und Staatenlose auf allen Ebenen verlässliche Informationen über ihre Rechte und den für ihre Situation in Deutschland geltenden Rechtsrahmen erhalten und dass sie Anspruch auf Entschädigung haben, wenn ihre Rechte verletzt wurden.
Die Solidarität der deutschen Bevölkerung mit den Menschen in der Ukraine ist beeindruckend, aber sie erstreckt sich im Großen und Ganzen nicht auf uns – obwohl wir vor denselben Gräueltaten fliehen und ebenfalls alles verloren haben,
was wir haben.
Mit dem Durchführungsbeschluss des Rates vom März 2022 legt der Rat der Europäischen Union Mindeststandards für die Mitgliedstaaten fest, wie sie allen durch die russische Invasion in der Ukraine vertriebenen Personen vorübergehenden Schutz gewähren können, und rät den Mitgliedstaaten, auch Drittstaatsangehörigen vorübergehenden Schutz zu gewähren und sie unabhängig von ihrem Schutzstatus aus humanitären Gründen in die Union aufzunehmen, ohne dass sie ein gültiges Visum, ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts oder gültige Reisedokumente benötigen.
Viele von uns sind sehr daran interessiert, uns mit unseren Fähigkeiten hier einzubringen, wenn wir die Möglichkeit dazu bekommen. Doch statt Unterstützung und Solidarität erfahren wir Diskriminierung und die Androhung von Abschiebung.
Wir werden als Problem wahrgenommen und die Behandlung, die wir derzeit erfahren, ist eine Verletzung unserer Würde, schadet unserer Gesundheit und gefährdet unser Wohlergehen.
Im Anhang zu diesem Brief möchten wir Ihnen erzählen, was wir auf unserer Flucht aus der Ukraine erlebten. Wir mussten alles zurücklassen, unsere Häuser und unsere Hoffnungen für die Zukunft. Wir möchten Ihnen auch mitteilen, wie Deutschland derzeit die im Ratsbeschluss festgelegten Mindeststandards nicht einhält und BIPoC-Flüchtlinge aus der Ukraine misshandelt.
Wir wissen, dass Sie sich in der Vergangenheit für die Gleichbehandlung ALLER Flüchtlinge, die aus der Ukraine fliehen, eingesetzt haben. Wir hoffen daher, dass wir Sie mit Beispielen unserer Erfahrungen mit ungerechter Behandlung, mit den Geschichten unserer Kämpfe und unserer Hoffnungen für die Zukunft davon überzeugen können, dass dies der richtige, gerechte und notwendige Weg ist.
Wir würden uns auch gerne mit Ihnen treffen und Ihnen persönlich von unseren Erfahrungen berichten.
In der Hoffnung auf Ihre Unterstützung verbleiben wir mit freundlichen Grüßen
BIPoC Ukraine & Friends in Germany
Anhang zum offenen Brief:
Wer sind wir?
Wir sind Studierende, Fachleute, Unternehmende, alleinstehend oder in einer Beziehung, verheiratet, Mütter, Väter, Eltern, Söhne, Töchter, Schwestern, Brüder:
- “Ich komme aus Nigeria und bin nach Kiew gezogen, um zu studieren und meinen Abschluss zu machen, bevor der Krieg begann.”
- “Ich bin ein 21-jähriger Student aus Äthiopien, ich war im zweiten Jahr meines Medizinstudiums, um in Kiew Arzt zu werden, bevor der Krieg ausbrach.”
- “Ich komme aus Indien und bin 2010 nach Kiew gezogen, um Medizin zu studieren. Ich habe 2018 meinen Abschluss gemacht und angefangen, als Chirurgin zu arbeiten. Außerdem eröffnete ich eine Englischschule und leitete sie bis zum Kriegsausbruch.”
- “Ich bin ein 31-jähriger Computeringenieur aus Nigeria. Ich habe mich auf Computersysteme und Netzwerke spezialisiert und arbeite seit 2020 in Kiew.”
- “Ich komme aus Nigeria und bin im Sommer 2021 nach Charkow gezogen, um einen Masterstudiengang in internationalen Beziehungen zu beginnen.”
- “Ich komme aus Ägypten und lebe seit 2013 in der Ukraine. Ich habe einen Bachelor-Abschluss in Telekommunikationstechnik und einen Master in Cybersicherheit. Ich war gerade dabei, mein eigenes Unternehmen für die Entwicklung von Kryptowährungen zu gründen, bevor der
Krieg ausbrach.” - “Ich habe in Charkow studiert und gearbeitet, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen und mein Studium zu finanzieren, bevor der Krieg begann.”
- “Ich komme aus Ghana und habe sechs Jahre lang in der Ukraine gelebt, um Medizin zu studieren.”
- “Ich komme aus Libyen. Ich bin 26 Jahre alt. Ich bin 2018 nach Kiew gezogen, um internationale Beziehungen zu studieren.”
- “Ich bin eine 33 Jahre alte examinierte Krankenschwester aus Ghana. Ich habe neun Jahre Berufserfahrung und bin im Rahmen meines beruflichen Fortschritts in die Ukraine gezogen, um Medizin zu studieren.”
- “Ich bin 25 Jahre alt und komme aus dem Iran. Ich war in meinem dritten Studienjahr an der Medizinischen Universität Kiew und studierte Zahnmedizin, als der Krieg ausbrach.”
- “Ich komme aus Nigeria und bin 2021 nach Charkow gezogen, um Software Engineering zu studieren. Ich habe gearbeitet und studiert, bevor der
Krieg ausbrach.” - “Ich komme aus Nigeria und bin in die Ukraine gezogen, um Medizin zu studieren, bevor der Krieg ausbrach.”
- “Ich bin 22 Jahre alt und komme aus Nigeria. Ich bin in die Ukraine gezogen, um Wirtschaft zu studieren.”
- “Ich komme aus Nigeria und war Medizinstudent im fünften Jahr in der Ukraine, als der Krieg ausbrach.”
- “Ich komme aus Ghana und bin in die Ukraine gezogen, um in Dnipro Informatik zu studieren.”
- “Ich komme aus Marokko und studierte im fünften Jahr an der medizinischen Fakultät in Charkiw, als der Krieg ausbrach.”
- “Ich komme aus Libyen. Ich bin 28 Jahre alt. Ich bin 2021 in die Ukraine gezogen, um einen Master-Abschluss in Ingenieurwesen zu machen.
- “Ich bin 27 Jahre alt und komme aus Nigeria. Ich bin 2018 in die Ukraine gezogen, um in Dnipro Computerwissenschaften zu studieren. Ich war in meinem letzten Semester an der Universität, als der Krieg ausbrach.”
- “Ich komme aus Nigeria und habe in Charkiw Wirtschaftswissenschaften studiert. Ich bin in meinem dritten Studienjahr.”
- “Ich bin ein 29-jähriger Student aus Ghana. Ich habe in der Ukraine internationale Wirtschaftsbeziehungen studiert und befand mich im letzten Semester, als der Krieg ausbrach.”
- “Ich bin 24 Jahre alt und komme aus Sierra Leone. Ich war in einem Masterstudiengang für internationales Recht eingeschrieben. Ich hatte drei Jahre in der Ukraine gelebt, bevor der Krieg ausbrach.”
Was würden wir gerne tun, wenn wir das Recht hätten, in Deutschland zu bleiben?
- Wenn wir die gleichen Rechte nach Artikel 24 wie ukrainische Staatsangehörige hätten, würden viele von uns gerne Deutsch lernen und ihr Studium in den Bereichen Medizin, Informatik, Wirtschaft und internationale Beziehungen usw. fortsetzen und abschließen. Wir wollen arbeiten, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen und unser Studium zu finanzieren.
- Diejenigen von uns, die ihr Studium bereits abgeschlossen haben und ausgebildete Fachleute sind, möchten weiterhin in unseren Berufen arbeiten und unsere Unternehmen aufbauen oder umstrukturieren. Da viele von uns Ärzt*innen oder Ingenieur*innen sind, möchten wir die Möglichkeit haben, uns weiterzubilden, damit wir unsere Ausbildung, unsere Abschlüsse und unser Know-how durch die in Deutschland erforderlichen Zertifikate anerkennen
lassen können.
Was sind die Hindernisse, denen wir begegnen?
- Bei der Einreise nach Deutschland werden wir von den Behörden diskriminiert, erniedrigt und willkürlich behandelt.
- Wir profitieren nicht von dem einfachen Zugang zu Aufenthaltsgenehmigungen, der ukrainischen Staatsangehörigen gewährt wurde.
- Wir haben keinen Anspruch auf Integrations- und Sprachkurse.
- Obwohl wir gerade vor einem Krieg geflohen sind und alles zurücklassen mussten – unsere Arbeitsplätze, unsere Häuser, den größten Teil unseres Besitzes – werden wir wie jede*r andere internationale Student*in behandelt und müssen nachweisen, dass wir über die finanziellen Mittel verfügen, um unseren Lebensunterhalt für einen Zeitraum von 12 Monaten zu bestreiten. Wir müssen nachweisen, dass wir über 11.000 € auf unserem Bankkonto haben.
- Verloren gegangene oder zurückgelassene Dokumente, die unseren Status oder unsere beruflichen Qualifikationen belegen, werden von den ukrainischen Botschaften nicht wieder ausgestellt.
- Die ukrainischen Universitäten stellen keine Abschriften von Unterlagen aus, die für die Anerkennung von Studienleistungen und die Einschreibung an Universitäten benötigt werden.
Wir, die Freiwilligen, die versuchen, BIPoC auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine zu unterstützen, haben Folgendes erlebt:
- BIPoC auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine haben in Deutschland bei Weitem nicht die sichere, einladende und unterstützende Umgebung vorgefunden, die der Mindeststandard sein sollte, um Menschen, die gerade aus einem Kriegsgebiet geflohen sind, in ihrer verletzlichen Situation angemessen
zu behandeln. - Vielmehr waren sie bei ihrem Versuch, einen sicheren Ort zu finden, immer wieder unmenschlicher und feindseliger Behandlung auf verschiedenen Ebenen ausgesetzt:
- BIPoC wurden aus Zügen herausgeworfen, die sie aus den unsicheren Städten herausbringen sollten, sie konnten die ukrainische Grenze nicht passieren, sie erhielten nach dem Grenzübertritt nicht die gleiche Hilfe und herzliche Aufnahme wie Geflüchtete mit ukrainischen Pässen.
- BIPoC wurden auf dem Weg zu einem sicheren Ort von Beamt*innen und Zivilist*innen körperlich verletzt.
- BIPoC wurden daran gehindert, an einen Ort ihrer Wahl zu reisen.
- In Deutschland wurden BIPoC aus Zügen gedrängt und daran gehindert, dorthin zu reisen, wohin sie wollten; dies betraf auch Personen, die nur auf der Durchreise in Deutschland waren, einschließlich Personen mit gültigen Zug-
und Flugtickets. - BIPoC wurden gegen ihren Willen einen oder mehrere Tage lang festgehalten, ihre Pässe wurden ihnen abgenommen.
- BIPoC wurde geraten oder sie wurden dazu genötigt, einen Asylantrag zu stellen, ohne zu wissen, dass dies eine der marginalisiertesten und unfreiesten Formen der Existenz in Deutschland ist, die wenig bis gar keinen Schutz bietet und mit welcher die Teilhabe am öffentlichen Leben auf lange Zeit erschwert bzw. verwehrt wird.
- BIPoC, die nicht in der Lage waren, rechtzeitig rechtlichen Beistand zu erhalten, wurden aufgrund von unrechtmäßig erlassenen behördlichen Anordnungen abgeschoben.
- BIPoC wurde der Bezug von Sozialleistungen durch Sozialämter verweigert.
- Die Unterstützung für BIPoC Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, ist außerhalb von Berlin sehr begrenzt: Die Menschen kommen oft zurück, nachdem sie weiter gereist sind und keinen einfachen Zugang zu Ressourcen und Informationen gefunden haben. In einigen Fällen wurden sie durch falsch informierte Behördenmitarbeiter*innen mehrfach zwischen verschiedenen Städten hin und her geschickt.
- Alles in allem haben die derzeitigen Rechtsvorschriften und ihre Umsetzung zu einer erhöhten Unsicherheit und Gefährdung von einer besonders vulnerablen Gruppe von Menschen geführt, die derzeit im Stillen leiden.